Episode 1: Du oder Sie

Episode 1: Du oder Sie – meine Erfahrungen mit der Wahl der Anrede als Thema im Deutschunterricht [2008 Wörter]

Formelle oder informelle Anrede

Was eignet sich besser für eine erste Episode als das Thema Anrede? Ein Albtraum (mit b und in der Bedeutung wie Nachtalb oder Nachtmar, nicht wie die Alpen, aber dazu ein andermal), also ein Albtraum für alle, die Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache lernen. Besonders kniffelig ist es für Menschen, die selber keine formelle oder hervorgehoben höfliche Anredeform aus ihrer Ausgangssprache kennen. Die Anredeproblematik trifft damit z.B. die derzeit über 370 Millionen Menschen, die muttersprachlich Englisch sprechen und die sich mit you eigentlich alle siezen. Gleichermaßen dürften sich Menschen die muttersprachlich Schwedisch sprechen mit dem formellen deutschen Sie schwertun.

Da wir hier im Blog informell miteinander umgehen, wähle ich das informelle Du. Ich denke, wir alle sind Sprachinteressierte, und vielleicht sind einige von Euch auch am Vermitteln von Sprache an Andere interessiert? Kontext und Interessengemeinschaft motivieren hier meine Anredewahl. Ich hoffe, das ist ok.

Du oder Sie – die Wahl der Anrede als Thema im Deutschunterricht

Bei der Anrede im Deutschen gilt es, viele komplexe Entscheidungen intuitiv und schnell zu treffen, um aus den beiden möglichen Anreden – Du oder Sie? – die richtige zu wählen. Dazu habe ich in meinen frühen Soziolinguistik-Seminaren an der University of Bristol und der University of the West of England ein Diagramm von Patrick Stevenson benutzt. Dies Diagramm zeigte, dass soziale Kategorien wie Alter (Erwachsener – Kind) oder Verwandschaft (verwandt – nicht verwandt) eine Rolle bei der Anredewahl spielen. (Nebenbei: Das Diagramm war aus dem damals neuen The German Speaking World von 2003.) Ich erklärte meinen Studierenden, dass es im Miteinander Vereinbarungen zur Anrede gibt, die in der Regel unausgesprochen sind. Beispielsweise so etwas wie „hier im Büro duzen sich alle, aber unsere Kunden siezen wir“. Wenn einen nicht zufällig ein freundlicher Kollege zur Seite nimmt, um das zu erklären, gilt es, dies selbst herauszufinden.

Eigentlich wollte ich meinen Studierenden mit dem Diagramm zeigen, dass es durchaus gewisse Regeln gibt, an denen man sich orientieren kann. (Und außerdem: Das Diagramm war im empfohlenen Lehrbuch und ich noch unerfahren.)

Schilderung der Anredeproblematik

Das Du wird innerhalb der Familie und unter Freunden oder nahen Bekannten als Anrede gewählt. In formelleren Kontexten, vor allem beruflich oder im öffentlichen Raum, findet eher das Sie Verwendung. Die Anrede ist unsymmetrisch, wenn sich starke Ungleichheiten zwischen den miteinander Redenden finden: Erwachsene duzen Kinder, diese aber sagen Sie zurück, besonders ältere Kinder in weiterführenden Schulen.

Für die Wahl der Anrede ist es deswegen wichtig, Faktoren wie das Alter der Beteiligten, die eigene gesellschaftliche Stellung und den Grad der Bekanntheit miteinander einzuschätzen. Solche Einschätzungen sind schon für sich genommen schwierig. Es braucht in manchen Konstellationen Erfahrung und gutes Einschätzungsvermögen, um die passende Anredeform zu erkennen.

Traditionell war es bis vor wenigen Jahrzehnten so, dass sich Fremde zunächst siezten. Nach längerer Bekanntschaft konnte diejenige Person, die eine höhere gesellschaftliche Stellung einnahm, der niedrig gestellteren Person das Du anbieten. In der Regel waren es damit ältere Personen, die jüngeren das Du anboten. Aber wie schon erwähnt, gibt es noch andere Faktoren in der gesellschaftlichen Hierarchie, die den sozialen Status einer Person bestimmen: Zu Alter kommen Geschlecht, soziale Position (berufliche Stellung, Bildung, erworbene oder geerbte Titel) und die Umstände der Unterhaltung. Kompliziert wurde die Entscheidung zwischen Du und Sie noch weiter durch gesellschaftliche Umbrüche, vor allem durch die sogenannte Studentenrevolution der 1968er Jahre. Junge Menschen brachen bewusst mit alten Regeln und Tabus und wählten entgegen den Regeln die Anrede Du. Das verstand sich als Provokation und um Verachtung für alte Hierarchien auszudrücken. Ein neues System entstand, das sich mit dem alten System mischte und dies teils überlagerte. Kurz: Eine typische Sprachwandelsituation, die zu vorübergehendem Chaos führt, bevor sich neue Regeln festigen.

Beispiele für Anredesituationen im Wandel der Zeit

Zwei Beispiele für die Komplexität der Anredewahl und für sprachlichen Wandel stammen aus meiner eigenen Familie. Während man sich um das Jahr 2000 schon längst privat zu duzen pflegte, boten meine Eltern damals erst im Alter von etwa 70 Jahren manchen langjährigen Bekannten das Du an. Weil sie aus einer Zeit stammten, in der man sich an Universitäten und sogar höheren Schulen untereinander siezte, hatten sie stets am Sie festgehalten. Obwohl sie seit Jahrzehnten bekannt waren und viel miteinander geteilt und durchgemacht hatten. Aber die Bekanntschaft hatte auf formeller Ebene mit dem Sie begonnen, und der schleichende sprachliche Wandel vom Sie zum Du war davon unabhängig vonstattengegangen, so dass die Revision der Anrede innerhalb der guten aber nicht extrem engen Freundschaft lange ausblieb.

Im gleichen Zeitraum berichtete mir meine Mutter empört von einem „jungen Mann“ (etwa Mitte bis Ende dreißig), der beim ersten Kennenlernen ohne zu fragen und, wie sie damals fand frech und unerzogen, das Du und ihren Vornamen benutzt hatte. (Nur wenige Jahre bemerkte ich übrigens, dass sie ‘jungen Leuten’ viel schneller von selbst das Du anbot.)

Beim Unterrichten in England besprach ich also mit meinen Studierenden den historischen Hintergrund für die heutige Unklarheit und erklärte wie oben angedeutet: Es gibt verschiedene Orientierungspunkte zur Wahl zwischen Du und Sie und mit etwas Übung kann man die Anredewahl stolperfrei meistern. Im Zweifelsfall, riet ich: Erstmal abwarten und kucken, was andere sagen.

Als Extremfälle nannte ich Kontexte mit besonders formaler Hierarchie, also etwa Universitäten. Dass beispielsweise der Leitung einer Fakultät oder eines Fachbereiches traditionell der Titel Spektabilität gebührt, fanden meine Studierenden höchst erheiternd. Diese Anrede wird aber höchst selten noch gebraucht, und wenn, dann in formalen Situationen. Sollten sie also eine Rede vor versammelter Fakultät halten und die Dekanin oder den Dekan direkt anreden müssen, beruhigte ich die Studierenden, hätten sie die Möglichkeit zu vorheriger Recherche. Auch würde man heutzutage nicht unbedingt auf solchen historischen Titel bestehen. Eine höfliche formale Anrede sei dann ausreichend. (Wer weiß, wie vielen Spektabilitäten gar nicht bewusst ist, dass sie welche sind?)

Als schwierigen denkbaren Fall nannte ich weiter die unwahrscheinliche Situation, in der ich plötzlich der damals regierenden Queen Elisabeth II. gegenüberstehen oder mich mit dem Papst in einem Raum befinden würde. In so einer Situation würde es zwar realistischerweise immer eine Entourage von Palast- oder Vatikanangestellten geben, die ich dann fragen könnte: „Wie ist die Königin bzw. wie ist der Papst denn anzureden?“ Rein theoretisch, also bei einem ungepufferten und spontanen Direktkontakt zu hochehrwürdigen Personen mit seltenen Ehrentiteln – wir verstiegen uns in diesen Diskussionen in phantastische Einzelheiten – würde ich selber lieber direkt fragen „Wie darf ich Sie denn ansprechen?“ als später mit der Erinnerung zu leben, gegenüber ihrer Majestät oder seiner Heiligkeit peinlich danebengegriffen zu haben.

„Die Rücknahme des Du gleicht einer Kampfansage“

Von einer schweißtreibend schmerzhaften Erfahrung mit einem voreiligen Du berichtete uns in einem der erwähnten Seminare passenderweise ein Student. Sein Auslandsjahr hatte er an einer österreichischen Universität verbracht. Beim Schulunterricht in England war viel Wert auf mündliche Kommunikation gelegt worden und die geübten Situationen waren meist Interaktionen mit Gleichaltrigen gewesen. Er wählte grundsätzlich das Du. Damit konnte er sich mit den anderen Studierenden und in Seminaren gut durchschlagen und sein Deutsch wurde immer besser. Praktisch und auch sprachtheoretisch. Nur das mit dem Duzen und Siezen kam ihm aus irgendeinem Grund lange nicht über den Weg. Erst nach vielen Monaten fiel ihm auf, dass ihren Professor niemand duzte. In der Tat handelte es sich um einen besonders ehrwürdigen und berühmten Akademiker, den selbst seine Kollegen siezten. Meinem Studenten fiel es wie Schuppen von den Augen, dass er der einzige war, der den Herrn Professor mit Du und Vornamen anredete. Den Vornamen hatte er an einem seiner ersten Tage in Österreich auf der Bürotür gelesen, wofür er sich noch sehr findig gefunden hatte.

Die weiteren Seminarsitzungen seien für ihn ein unangenehmes Spießrutenlaufen gewesen, in denen er eine direkte Anrede und den Bezug auf die Person des Professors mit den verschiedensten, teils absurd komplizierten sprachlichen Mitteln komplett vermied. Durch einen Wechsel zurück vom Du zum Sie die Aufmerksamkeit auf seinen Fauxpas lenken, wollte er nicht. Wir alle fühlten bei dem lebhaften Bericht mit und durchlitten mit dem Studierenden die Pein der verfehlten Anredewahl.

An diesem Punkt fühlte ich mich als kompetente Lehrerin: Historischer Hintergrund, Sprachtheorie und Beispiele waren abgehakt. Und gekrönt wurde die Lehreinheit durch die aktive Beteiligung der Studierenden, insbesondere dem ebenso unterhaltsamen wie lehrreich peinlichen Fall aus eigenen Reihen.

Für mich selber folgte hierauf leider auch ein Peinlichkeitsmoment, nämlich bei der Bewertung der schriftlichen Prüfungen in diesem Seminar. Es gibt beim Lehren manchmal solche Momente, in denen man nicht weiß, was bloß im Unterricht falsch gelaufen ist. Sich selber schämen oder fremdschämen ist dann die Frage. Auf die Frage nach einer Beschreibung der Anredeproblematik schrieben ein paar Studierende in ihrer schriftlichen Prüfung sinngemäß: „Die Anrede im Deutschen ist so kompliziert, dass die Deutschen selber nicht wissen, wie sie sich anreden sollen. Sie sind deswegen ständig verwirrt und oft ist es peinlich. Aus diesem Grund muss man, wenn man neue Leute trifft, immer erst nachfragen, ob man sie siezen oder duzen darf. Zusätzlich muss man recherchieren, mit welchem unaussprechlichen Titel man sie anreden soll.“ Au weia!

Variationen und Wandel bei der Anrede

Dabei war es früher noch viel komplizierter. Da konnte man zusätzlich zum Siezen durch die Anrede mit Er (Erzen) oder mit Ihr (Ihrzen) noch ganz subtile Abstufungen an Höflichkeit – oder durchaus auch gezielte Unhöflichkeit – in der Anrede verwenden. Und bis heute sind Anreden mit wir und man ein Mittel, sich als Deutsch sprechende Person in der komplizierten Welt der menschlichen Relationen ganz subtil zu positionieren. Zudem gibt es regional oder in unterschiedlichen sozialen Umfeldern verschiedene Mischformen, so das IKEA Du (das Du für alle), das Hamburger Sie (Sie + Vorname), ein sogenanntes Rheinisches bzw. Münchner Du (Du + Familienname) und das ironisch-historisierende, informelle sogenannte Berliner Er („Hat er etwa geflunkert?“). Diese Formen, die ich hier mit ihren umgangssprachlichen Namen vorgestellt habe, erfüllen jeweils ihren ganz spezifischen Zweck.

Das ist jetzt nichts besonders Deutsches. Ich habe bereits die informelle Anrede in Schweden erwähnt. In Schweden gab es wie in Deutschland ab den späten 1960er Jahren eine Anredereform. Ausgehend von noch sehr formellen Anredegepflogenheiten wurde zügig eine informelle Anrede entsprechend dem Du üblich. In nur wenigen Jahrzehnten wurde es breitflächig üblich, sich privat, öffentlich und beruflich zu duzen. Bis heute werden nur Mitglieder des Königshauses normalerweise nicht geduzt, sondern indirekt angeredet (siehe Berliner Er). Also würde man die schwedische Kronprinzessin Victoria nicht fragen „Was hältst Du von diesem Thema?“ sondern „Was hält die Kronprinzessin von diesem Thema?“ Und auch von einer katalanischen Freundin weiß ich, dass sie bis ins Erwachsenenalter ihren Vater (nicht aber die Mutter) gesiezt hat, bis ihr Vater ihr schließlich das Du anbot.

Derzeit scheint übrigens eine Wiederbelebung der alten Formalität zu passieren: Das Sie kommt zurück. In Schweden und in Deutschland. Das ist ein spannender Vorgang. Als Soziolinguistin kann ich gut verstehen, dass einiges für das Sie spricht. Wenn man sich duzt, ist es schwieriger, formellen Abstand voneinander zu halten. Das kann positiv sein, etwa, wenn man in einem Laden geduzt wird und sich dann persönlicher wahrgenommen und besser bedient fühlt. Das kann aber auch als negativ empfunden werden, z.B. wenn man im Beruf versucht, professionellen Abstand zu halten um Arbeit und Privatleben voneinander zu trennen. Oder wenn das Verkaufsgespräch im Laden durch das Duzen als distanzlos und aufdringlich empfunden wird. Das verdirbt dann möglicherweise sogar den Spaß beim Stöbern und treibt einen in die Flucht.

Auch nach über zwanzig Jahren kann ich Euch kein einfaches Schema zur Anredewahl anbieten. Das Diagramm aus dem Lehrbuch benutze ich jedenfalls nicht mehr. Aber wie damals rate ich: Im Zweifelsfall ist es immer besser, zuerst indirekte Anreden und Ausweichstrategien zu nutzen, bis man die Situation einschätzen kann. Idealerweise gibt es Personen in einer ähnlichen Position wie Ihr, die Ihr nachahmen könnt. Erst einmal beobachten, dann die Anrede wählen. Das ist besser, als wie mein damaliger Student voll daneben zu liegen und dann peinlich herumzueiern. Denn, was er damals intuitiv und voller Schrecken gegen Ende seines Österreichaufenthaltes erfasste: „Die Rücknahme des Du gleicht einer Kampfansage“. (Ich meine, diese Aussage stammt vom Germanisten Werner Besch, der viel zum Thema Anrede veröffentlicht hat, nur kann ich das Zitat partout nicht finden ...)

Ich mach jetzt besser Schluss. Mehr beim nächsten Mal. Bis dahin: Passt auf Euch auf!
Und wenn Ihr eine Frage oder einen Kommentar habt: Ich freue mich auf Nachricht von Euch.

Zurück
Zurück

Episode 1 engl.: Du or Sie

Weiter
Weiter

swift Stories